The Wall

April 2012, Mumbai, Indien

Beitrag über die erste Street Art Kunst in Indien. Publikation: Päng

Feature about the first Street Art project in India. Publication: Päng

 

Bandra ist ein Viertel im Westen der indischen Megastadt Mumbai, ein klassisches Arbeiterviertel mit verwinkelten Gassen und alten zweistöckigen Häusern. Als Dhanya Pilo 2006 hierher zog, verliebte sie sich in die Umgebung und die Menschen und beschloss, die trostlosen Häuser mit ein bisschen Farbe aufzupäppeln. Sie fragte ihren Vermieter, ob sie die Fassade seines Hauses bemalen dürfe. Das Ergebnis gefiel den Nachbarn und Dhanya bekam schnell neue Flächen zur Verfügung gestellt. Freunde und Bekannte organisierten Farbe und griffen mit ihr gemeinsam zum Pinsel. Aus der Nachbarschaftsaktion wurde The Wall Project, ein loser Zusammenschluss von Menschen, die den öffentlichen Raum Mumbais mit Gemälden gestalten und sich im Netz organisieren. Bandra ist mittlerweile zum Szeneviertel für Künstler und Kreative geworden. Und Dhanya gilt als Initiatorin der ersten zeitgenössischen Street-Art-Bewegung Indiens. Evi Lemberger traf sie in Mumbai.

Evi Lemberger: Wie fühlt es sich an, die erste gewesen zu sein, die Street Art in Indien verwirklicht hat?

Dhanya Pilo: Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich die Ersten waren, aber unser Einfluss in Indien ist in der Tat sichtbar. Die Resonanz, die wir bekommen, unterstützt uns, ist  enthusiastisch und ermutigend. Das macht mir und meinen Freunden des Wall Project Lust, mehr Verantwortung zu übernehmen, mehr von diesen Ideen zu verbreiten. Es ist auch nicht völlig neu: Indien war schon immer ein Land, das dekorative Kunst im öffentlichen Raum hatte. Zwar nicht das, was wir unter heutiger Street Art verstehen, aber es gab Kunst auf der Straße, in den Hauseingängen und an den Wänden. Diese waren lokal und kulturell verschieden.

Warum malst du ausgerechnet auf der Straße und nicht irgendwo in einem Atelier?

Die Straße ist ein öffentlicher Raum, der für Menschen aller Schichten zugänglich ist. Wir sind alle Mumbaianer, mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Stadt, und es ist großartig,

den öffentlichen Platz als Leinwand benutzen zu können. Wer vorübergeht, kann etwas Ungewöhnliches sehen, genießen und lernen. Kunst im öffentlichen Raum ist eine Art Kommunikation mit allen, die sich in ihm bewegen. Deswegen ist das Projekt auch sehr einfach und verständlich. Jeder, der will, kann mitmachen und zuschauen.

Wenn ich mitmachen will, was muss ich tun?

Du suchst dir eine Wand und fragst den Eigentümer, ob du die entsprechende Wand verschönern darfst. Am besten zeigst du einen ersten Entwurf deines Bildes. Ganz wichtig: Keine Werbung, keine obszönen Motive, keine rassistischen Botschaften! Dann besorgst du dir Wandfarbe, die der Witterung standhält und legst einfach los. Diese Herangehensweise funktioniert zumindest in Indien sehr gut.

Wie hat sich das Projekt über die Jahre hin entwickelt?

Insgesamt wurden mehr als 600 Wände in verschiedenen Teilen Mumbais bemalt. Die Gemälde befinden sich an Privathäusern, aber auch an Turnhallen, Supermärkten, Spielplätzen. Viele der damaligen Mitglieder des Wall Project gründeten eigene kleine Projekte, worauf wir sehr stolz sind. Wir hätten nie gedacht, dass wir so viel bewirken würden. Als wir 2006 anfingen, war das Bemalen von Wänden nur eine fixe Idee, wir hatten Spaß daran. Erst später, als viele Menschen mitmachen wollten, wurde es zu einem Projekt. Es gibt keine Agenda, keine Mitgliedschaft, kein direktes Ziel. Es ist offen für jeden. Das Projekt an sich ist auch nicht politisch. Die Bilder sollen einfach nur die Gedanken anregen oder die Menschen zum Lachen bringen.

Wie erklärst du dir, dass sich so viele Menschen für das Wall Project begeistern?

Die Idee ist sehr leicht nachzuahmen. Und das Ergebnis ist schnell sichtbar. Außerdem ist es so, dass in Indien zeitgleich mit der Entstehung des Wall Project ein Umschwung stattfand. Früher strebten viele junge Inder in den Westen und auch ich war von der Idee fasziniert. Dann jedoch begannen viele, sich Themen innerhalb Indiens zuzuwenden. Besonders deutlich sieht man den Sinneswandel in der Musik: Bis dato kopierten die Bands nur Musik aus dem englischsprachigen Raum. Plötzlich fingen sie an, sich mit indischer Musik und ihren eigenen Ideen zu beschäftigten, und es entstanden sehr originelle Musikrichtungen.

 

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Würdest du illegal malen?

2008 bekam ich ein paar Anrufe von einigen jungen Kerlen, die mich fragten, ob ich Lust hätte, mit ihnen illegal zu malen. Sie waren professionelle Hip-Hopper, sehr energische Typen. Das Angebot ging an mich, da sie dachten, ich bin wie sie. Aber ich dachte nur: Scheiße, ich bin wirklich alt, ich möchte das nicht tun. Ich kann tagsüber malen, habe freundliche Nachbarn, die mir Bier und Essen vorbeibringen. Warum sollte ich es in der Nacht tun? Ich glaubte und glaube, ich bin einfach nicht Teil dieser Szene.

Euer größtes Projekt war eine zweieinhalb Kilometer lange Wand an der Tulsi Pipe Road, die entlang einer Eisenbahnstrecke verläuft. Wie kam es dazu?

Die Mauer an der Tulsi Pipe Road hatten wir schon lange im Auge. Bis dahin hatten wir Wände von Privathäusern, Geschäften und Schulen bemalt; wir wollten endlich auf großen öffentlichen Plätzen malen. Anfangs dachten wir, dass es viel zu kompliziert und bürokratisch werden würde, eine Erlaubnis zu bekommen. Wir waren völlig überrascht, als ein städtischer

Kommissar uns vollständige kreative Freiheit gab. Es war, als würde ein Traum wahr werden. An dem Tag, als wir die längste Wand Mumbais anmalten, kamen rund 400 Neugierige unterschiedlichen Alters dazu! Einige waren Künstler, aber die meisten waren nur Interessierte, die malen und dabei Spaß haben wollten. Die Beteiligung war überwältigend. Die Menschen hatten das Gefühl, das Gesicht der Stadt mitzubestimmen und dadurch ihre Kreativität auf demokratische Weise einbringen zu können.

Was ziehst du für dich selbst aus dem Projekt?

Durch das Wall Project komme ich mit so vielen verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Milieus in Kontakt, das ist großartig. Denn jeder Mensch hat das Potenzial, Dinge zu ändern, und das Wall Project bringt sie zusammen und befähigt sie, das Beste aus ihrer Umgebung zu machen.

Gibt es nicht auch Probleme?

Ja, manchmal beziehen sich Menschen auf das Wall Project, ohne es wirklich zu meinen. Die Leute vergessen die Idee der Zusammenarbeit. Dann geht es nicht mehr um den Spaß an der Kooperation, sondern um egoistische oder wirtschaftliche Motive. Die Tulsi Pipe Road ist ein gutes Beispiel: Es gab eine Firma, die unsere Idee übernahm und eine große Malaktion startete. Sie übermalte unsere Malereien, obwohl an der gleichen Wand noch viel mehr freie Fläche war. Außerdem gab sie die Themen vor.

Was ist der aktuelle Stand des Projektes?

Wir sind um die Welt gereist, haben Beiträge veröffentlicht und viele neue Leute kennengelernt. Wir planen neue Projekte, Workshops, Kollaborationen, neue Techniken, und wir haben vor, uns neue Umgebungen und den Einsatz von alternativen Medien zu erschließen. In Mumbai planen wir ein Kulturzentrum, das Architektur, Stadtplanung, Künste und Medien vereint. In Europa und Amerika gibt es viele solcher Orte, in Indien fehlen sie noch. Und wir wurden beispielsweise gefragt, ob wir das größte Stadion in Mumbai anmalen und mit Installationen verschönern wollen.

Letztes Jahr lebte ich in Moskau und studierte im Kunstzentrum Strelka. Ich bekam dort Einblicke in öffentliche Kunst- und Design-Projekte auf der ganzen Welt und knüpfte viele Kontakte. Nach einem Jahr bin ich wieder nach Mumbai gezogen, mit viel Motivation etwas zur Stadt Mumbai zu machen.

Ich bin gespannt, ob sich mein Blick verändert hat, wenn ich wieder in Indien bin.

[1] Ein Visual Jockey (VJ) ist ein Videokünstler im Kontext von Musikveranstaltungen.

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Dhanya Pilo (*1981) segelt gerne um die Küste Mumbais. Neben der Gründung des Projekts studierte sie am National Institute of Design in Ahmedabad, arbeitete an Filmprojekten, wurde Visual Jockey (VJ)[1], bezeichnet sich selber als Urbanistin und visuelle Künstlerin und lernt zeitgenössischen Tanz. Vor kurzem beendete sie einen Kurs am Strelka Institut in Moskau und lebt momentan in Mumbai. www.dhanyapilo.com und www.thewallproject.com.

Text: Evi Lemberger/ Franziska Schramm

Fotos: Evi Lemberger

Publikation: Päng #5, Südostasien Magazin

wall project.pdf