Manege frei

Januar 2013, Genf, Schweiz

 

Beitrag über eine Zirkusfamilie für das Magazin Päng. Zusammenarbeit mit Zirkuskünstler Julian Bellini

 

Feature about a circus family for the magazine Päng. Collaboration with the Cicrusartist Julian Bellini.

 

Fieber

Das Fieber ist schnell gestiegen. Ich hatte es nicht erwartet, auch wenn alle ein bisschen krank sind. Am Hintereingang des Theaters stehen die Raucher im Schnee, auf der Bühne werden die Scheinwerfer und die Rauchmaschinen getestet. Meine Kollegen sind schon beim Aufwärmen: Stimmübungen für die Schauspieler, Dehnen auf dem Boden für die Tänzer, Handstand und Jonglieren für die Artisten. Seit vier Wochen treten wir fast jeden Tag auf, der Körper ist schon an den Rhythmus gewohnt. Drei Stunden dauert das Stück, drei Stunden vorher sind wir da, um die Müdigkeit aus den Knochen zu vertreiben, um die Gelenke zu lockern, die am Tag zuvor gestaucht worden sind. Wir Artisten sind nicht die Hauptattraktion des Abends, nur ein kleines Feuerwerk von Zeit zu Zeit. Aber die Konzentration, die Spannung der dreistündigen Show, die plötzlichen, kurzen Anstrengungen schleifen an unseren Reserven.

Heute ist alles ein bisschen schwieriger als sonst, die Hände verkrampfen, während die Finger auf dem Boden den richtigen Druck suchen, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Wie erstaunlich es doch jedes Mal ist, dass sich die Hände, die doch nicht viel kleiner sind als die Füße, so viel weniger dafür eignen, den Körper zu tragen. Umso berauschender das Gefühl, mit nur winzigen Veränderungen der Körperspannung das Gewicht von den Fingern in die Handgelenke schieben zu können. Spüren, wie der Körper sich ins Gleichgewicht bringt. So lange die Spannung hält, können sich Beine und Kopf frei bewegen, ohne die ganze Balance in Gefahr zu bringen. Unglaublich, wie stundenlanges Stehen schlimmstenfalls lästig wird, eine Minute auf den Händen aber einem Kraftakt gleicht.

Das ist der Zauber. Nichts von dem, was in der Manege oder auf der Bühne geschieht, ist unmöglich, es ist meist nicht einmal weit entfernt von dem, was alle können und ständig tun. Es ist eine  Gratwanderung am Rand der eigenen Möglichkeiten. Wenn mein Sohn Fahrradfahren lernt, ist er in genau demselben Zustand. Sein ganzer Körper, sein ganzer Geist sind der einen Aufgabe gewidmet: an die eigene Grenze zu gehen, das Beste rauszuholen. Wenn alles gut gegangen ist, ist das Glücksgefühl erstaunlich und auf seinem Gesicht nur deutlicher zu lesen als auf meinem.

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Das Jonglieren ist heute auch nicht leicht, die Augen wollen nicht richtig folgen, der Kopf ist schwerfällig, die Finger ungeschickt. Noch erkläre ich mir meinen Zustand mit allgemeiner Müdigkeit. Erst später, die Bühne ist vorbereitet, alle Requisiten an ihrem Platz, das Publikum ist im Saal, merke ich, dass das nicht der einzige Grund sein kann. Als ich von meinem Schminktisch aufstehe, dreht sich die kleine Loge, die ich mir mit meinem Kollegen Vivian teile, ich schwanke. Ich schließe erschrocken die Augen. Sofort lässt das Schwindelgefühl nach, doch sobald ich sie öffne, ist es wieder da.

Während auf der Bühne der Eröffnungsmonolog beginnt, wird mein Körper schwächer, meine Stirn wird heiß, meine Hände kalt und in meinem Kopf fahren die Emotionen Karussell: Drei Stunden muss ich durchhalten, acht Szenen spielen, ebensoviele Kostümwechsel, nichts darf schiefgehen, nichts weggelassen werden, weil das Wohl meiner Kollegen davon abhängt. Sie springen mit einem Schleuderbrett, einer Art Wippe, die durch das Gewicht des Einen den Anderen in die Luft katapultiert. Ich springe nicht, bin aber bei ihnen, bin stützende Hände auf ihrem Rücken, aufmerksame Augen, die die Landung überwachen. Ein kleines Detail, das sich verändert, kann eine solche Nummer in Sekunden unmöglich machen.

Ich schließe die Augen, meine Finger tasten sich an der Wand entlang, kurzer Korridor, kurze Treppe. Schon so oft hier entlang gegangen, es geht auch mit geschlossenen Augen. Ich taste mich die Stufen hinunter, durch die Tür, hinterm Vorhang an der Mauer entlang zur anderen Bühnenseite. Hinsetzen sobald ich anhalte, dann kann ich auch die Augen aufmachen und hoffen, dass meine Kollegin nicht den glasigen Blick bemerkt, den Schweiß auf meiner Stirn. Auf der Bühne beginnt die Szene, das Publikum lacht, der Humor ist gut, nach wochenlangen Proben und 30 Auftritten kenne ich Texte und Pointen auswendig.

Vorbereiten, zuhören, Stichwort, aufstehen. Das Bühnenlicht blendet hell, das Schleuderbrett steht vor mir, da auch meine Kollegen, und dahinter das Publikum. Die Sessel sind rot, die Reihen stehen eng, darüber ein mit goldenem Stuck verzierter Balkon. Aber jetzt nur Köpfe, vage auszumachen in diesem Tunnel aus Licht umgeben von Dunkelheit. Ein Energietunnel wie in einem Generator, geladen mit magnetischer Spannung, unsichtbaren Fäden aus Erwartung und Überraschung, gespickt mit Drähten, die auf Berührung unberechenbare Reaktionen auslösen. Wie die Sterne, die in Filmen bei der Beschleunigung zur Lichtgeschwindigkeit verschwimmen und die Raumzeit krümmen. Jede Minute dauert Stunden, und doch vergeht die Zeit so schnell wie nirgends sonst.

Neues Stichwort, kurze Vorbereitung, kurzer Anlauf, jetzt vorsichtig, dann ein großer Lärm. Das Schleuderbrett hilft den Akrobaten in Höhen zu springen, die das Auge überraschen, dem Geist sofort seltsam erscheinen: ein Mensch sollte nicht so hoch überm Boden sein. Beide Füße müssen wieder auf dem kleinen Brett landen, falls es ohne Hilfe nicht gelingt, reicht eine kleine Stütze im richtigen Moment. Dafür bin ich da. Und das Erstaunliche passiert: Es gibt Leute, die bei jedem Wort stottern und als Schauspieler die schwierigsten Monologe fehlerfrei deklamieren. Meine Theaterlehrerin, die vor Höhenangst nicht auf einem Stuhl stehen kann, in ihrer Rolle aber über ein vier Meter hohes Gerüst balanciert. Und es gibt mich, ohne Schwindelgefühl, keine Zweifel, Augen offen, das Fieber vergessen, der Körper funktioniert und ist selbst genau so überrascht wie ich. Dieses erhebende Gefühl, jeden Moment wahrzunehmen, jetzt, hier. Die Spannung zwischen Bühne und Tribüne, diese angereicherte Wirklichkeit. Und dann der Applaus.

Julian Bellini, 30, in einem 10-Seelen-Weiler im Bayerischen Wald geboren, herumgetrieben in Westafrika und Spanien, lebt heute in einer Vorstadt nahe Genf auf dem Grundstück der Artistenschule Théâtre-Cirqule. Mit seinen zwei Kindern und seiner Frau wohnt er seit 8 Jahren im Wohnwagen, ist untertags Buehnentechniker und Lehrer und tritt abends in Solo- und Gruppenshows als Jongleur und Akrobat auf. Ein Leben ohne Zirkus könnte er sich nicht vorstellen, ein Leben ohne Wohnwagen schon – nur müsste das Haus nur ein Zimmer haben und gleich einen Garten dran.


Was denkst du bedeutet Zirkus im 21. Jahrhundert für dich?

Zirkus kann so viel bedeuten, so viele Formen annehmen, individuelle Erfahrungen hervorbringen, so viel Verschiedenes, selbst nur für  mich… Zirkus ist an sich vollkommen überflüssig; wie so viele Kunst. Es ist aber  ein schönes Erlebnis, wenn Leute zusammen ein Spektakel anschauen, sich ganz unterschiedliche Geschichten erzählen, aber in den gleichen  spannenden Momenten den Atem anhalten, und dann erleichtert zusammen schnaufen. Wie eine universelle Sprache, gelingts, gelingts nicht??? Schön.

Du wohnst neben einer Zirkusschule, bist nebenbei auch Lehrer und Buehnentechniker- warum ist Zirkus und Akrobatik heutzutage wichtig?

Ich arbeite dort weil es mir ermöglicht dort zu leben und zu trainieren, und weil es ein wunderbarer Ort ist. Habe festgestellt dass alle die hier an dieser Zirkusschule viel Zeit verbringen, woanders wenig Selbstvertrauen  haben, wenig Möglichkeiten sich auszuleben und auszudrücken.
Ist aber spezifisch hier so, nicht  unbedingt Zirkus allgemein.
Zirkus ist wichtig. Es bietet viel auf einmal: Sport, Kreativität, Tanz, Ausdruck, Gruppenerlebnis, Beschäftigung alleine, Verantwortung. Es ist nicht nach Geschlechtern getrennt. Eigentlich die perfekte Beschäftigung…

Wirst du für deinen Lebensstil schräg  angesehen? Magst du es?

Natürlich, ja auf beide Fragen. Wäre auch gar nicht so wenn ich nicht wollte. Man muss es mir ja nicht ansehen, dass ich kein Bauarbeiter/Möbelpacker/Schullehrer bin. Ist auch leichter komisch zu sein, und noch dazu einen komischen Beruf zu haben, als komisch zu sein und Arzt sein zu wollen. Auch glaube ich ist es wichtig, dass es so Leute gibt wie mich, wie den Zirkus, der einen Fluchtpunkt für Menschen im sonst so einförmigen Alltag bildet. In der Schule gibt es auch viele, die im normalen Leben Außenseiter wären. Die sind hier ganz normal.

(Interview Julian Bellini mit Evi Lemberger)

Foto: Evi Lemberger

Text: Julian Bellini

Publikation: Päng

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