Zurück nach Lam

April 2013, Lam, Deutschland

Fotobeitrag plus Recherche zu dem Thema Zurück aufs Land für das Magazin Chrismon.

Comissioned work plus research and concept development about the topic Return to the countryside for the magazine Chrismon.

Nach ihrem Abitur wollte Evi Lemberger unbedingt weg. Sie war in Lam, einem 2800-Einwohner-Dorf im Bayerischen Wald an der Grenze nach Tschechien aufgewachsen – im Gasthof „Zum Kirchenwirt“. Ein Freund vermittelte ihr 2003 ein Freiwilligenjahr in Bris­tol, England: behinderte Kinder betreuen. Von dort zog sie nach München, studierte Fotografie in London und reiste mehrere Jahre lang Foto­aufträgen hinterher, bis nach Bangladesch.

Evi Lemberger mag Großstädte, ihre Anony­mität. Sie mag es, Leute zu beobachten, immer wieder andere kennenzulernen. Die Großstadt ist abwechslungsreich und anregend. Doch mit der Zeit verblasste ihre Faszination. Ihre Möglichkeiten zu nutzen, jederzeit ins Kino gehen zu können, Theater und Ausstellungen zu besuchen ist teuer. Das Leben ist hektisch, die Zeit für Kultur fehlt, auch die Zeit, Ideen umzusetzen.

Im August 2012 kehrt Evi Lemberger in den Bayerischen Wald zurück, ins Elternhaus und zur Großmutter, die auch dort wohnt. An der Tür zu ihrem früheren Kinderzimmer kleben noch Sticker aus der Grundschulzeit. Wie früher bringt der Getränkehändler Helmut Lemberger die Bierfässer und Limokisten – er kommt von hinten ins Gasthaus und muss nicht klingeln. Lemberger heißen viele im Dorf, ohne verwandt zu sein. Manches ändert sich, Dorfgeschäfte geben auf, weil die Leute übers Internet einkaufen. Anderes bleibt wie früher: die Ruhe und die intensive ­Dorfgemeinschaft zum Beispiel.

Evi Lemberger arbeitet weiter als freischaffende Fotografin, porträtiert einen britischen Ghostwriter, einen indischen Protestführer und ein soziales Unternehmen in Berlin. Daheim fotografiert sie eine alte Holzspielwarenfabrik und ein Märchenschloss. Sie schreibt ein Kochbuch mit Rezepten ihrer Großmutter. Derzeit hat sie wieder in Bris­tol zu tun. Aber ihr Lebensmittelpunkt ist jetzt das Heimatdorf Lam.

,,Die Waldtapete im Tanzsaal war schon immer da, solange ich mich erinnere. Mit meiner Kusine und meiner Schwester habe ich hier Bedienung gespielt, Geburtstag gefeiert, später mit Freunden auch große Partys. Alle Familienfestivitäten fanden vor dieser Tapete im Wirtshaus meiner Eltern statt. In Lam sind wir von Bäumen umgeben. Ich mag den frischen Geruch, wenn ich mit dem Zug nach Hause komme, diese unglaubliche Weite, diese Meere von Wald. In fremden Städten fehlte mir immer irgendetwas. jetzt weiss ich was. Heimat ist dort, wo ich mich auskenne, wo mir die Menschen etwas bedeuten und ich mir keine Sorgen machen muss.“

„Klingel, so nannten wir Karin früher. Ihr Nachname ist Klingeisen. Sie hatte lange Haare. An denen haben die Freundinnen gezupft und ‚Klingel‘ gesagt. Für uns Kinder war das lustig. Manchmal rutscht mir der Spitzname heute noch raus. Karin war eine typische Pendlerin: unter der Woche in München, am Wochenende daheim. Nun lebt sie wieder ganz in Lam. Karin und ich haben unsere Kindheit und Jugend miteinander verbracht. War es mir langweilig, ging ich zu ihr, sie wohnte nur fünf Minuten entfernt. Wir haben gespielt, sind lange laufen gegangen, später waren wir gemeinsam auf Partys und beim Schultheater. Karin ist ein Jahr jünger als ich, das hat mir immer viel bedeutet. Jetzt ist sie verheirate und schwanger – und ich nicht.“

„Die Klasse in meiner alten Grundschule erscheint mir heute unglaublich klein. Sie ist zum Handwerksraum umgebaut worden. Ich versuche, mir die Schüler vorzustellen. Als ich zur Schule ging, war dort viel mehr Betrieb wegen der Volksschule. Heute besuchen mehr Schüler die weiterführenden Schulen außerhalb. Uns Kindern erschien damals alles riesig. Morgens bekamen wir Bananen- und Erdbeermilch. Solche Details kamen mir wieder in den Sinn, als ich das kleine Bügelbrett und die kleine zugedeckte Tafel in unserer alten Klasse stehen sah.“

„Meine Mutter war ein Stadtkind, sie stammt aus einer Arbeiterfamilie. Vor 30 Jahren kam sie aufs Land ins Wirtshaus ihrer Schwiegereltern, das sie fortan 24 Stunden am Tag repräsentierte. Ich weiß nicht, wie es meiner Mutter gelang, im Dorf Anschluss zu finden. Aber ich weiß ungefähr, was sie durchmachen musste. Jeder redet über jeden, man muss sich an alles Mögliche anpassen, man sagt zu jedem „Grüß Gott“, ist zu jedem gleich freundlich, man hat einen bestimmten Stand und weniger Privatsphäre. Und sie hatte einen anderen Dialekt. Jetzt, 30 Jahre später, ist sie Mitglied im Frauenbund, hat den örtlichen Dialekt übernommen, identifiziert sich mit dem Dorf, wollte es sogar verschönern. Läden starben eine Zeit lang aus, meine Mutter fing an, die leeren Schaufenster zu gestalten, damit sich die Leute nicht so verlassen fühlen.“

Ich helfe manchmal bei meinen Eltern aus und bediene. Da ist Zeit, mit den Leuten zu reden. Zum Beispiel mit Gertrud, die vor vielen Jahren aus Nürnberg zugezogen ist. Sie kommt fast täglich mit ihrer Freundin morgens zum Kaffeetrinken. Wir sehen uns immer wieder, kommen ins Gespräch, eine Beziehung entwickelt sich. Genau das passiert in der Stadt nicht. Früher wollte ich die Anonymität der Stadt haben. Jetzt schätze ich sehr, wie sich Privates und Berufliches vermischen. Eigentlich sind die Wege zu den Leuten auf dem Dorf kurz. Man kann den Kaffee auch zuhause trinken. Aber Gertrud kommt trotzdem, weil sie reden und sich die Zeit vertreiben will. Sie kommt auch, wenn geschlossen ist – durch die Hintertür. Meine Mutter oder ich kochen ihr dann einen Kaffee. Ich habe sogar kürzlich überlegt, mit Gertrud einen Ausflug zu machen. Das hat sich nur noch nicht ergeben.

Die Hirsche hat mein Großonkel auf seinem ehemaligen Hof „Zum Postwirt“ gezüchtet. Dort ist auch meine Großmutter aufgewachsen. Mein Großonkel begann in den 70er Jahren mit der Zucht. Ihm wurden die Hirsche angeraten, weil Feldflächen brachlagen. Knechte und Mägde waren zu teuer, die Gerätschaften zu alt. Die Felder zu bewirtschaften wäre für ihn unmöglich gewesen. Mit den Hirschen würden die Felder nicht kaputt gehen, die Hirsche halten die Erde locker, fressen die kleinen Triebe nachwachsender Bäume. Sie erhalten die Feldflächen, wenn man sie mal wieder gebrauchen will. Die Hirschzucht ist keine Goldgrube, aber eine kleine Attraktion für Touristen. Die Tiere wachsen uns allen ans Herz. Man muss jedes Jahr Hirsche töten, um Überbevölkerung zu vermeiden. Mein Cousin, der den Hof übernahm, konnte das im ersten Jahr nicht. Er musste sich richtig überwinden.

Als ich Schultheater gespielt habe, wurde der alte Lokschuppen von Kötzting zum Kunstraum umgebaut. Wir spielten hier modernes Theater, einmal in einem erotischen Café. Wir erzählten Geschichten, tanzten, sangen teils zwischen den Leuten. Wir haben uns natürlich nicht ausgezogen, sondern unser Stück handelte von Liebe. Ein Mädchen lag auf der Bühne und sang ein bayerisches Volkslied mit einem Jungen. Das Duett hatte überhaupt keine sexuellen Konnotationen, aber wie sie es gesungen haben: Ging es um Berge, zeichnete er ihre weiblichen Linien nach. Wir haben uns sehr amüsiert. Ich kam erst um ein Uhr nachts wieder heim. Ein Redakteur von der Süddeutschen Zeitung fragte uns damals, wie wir auf dem Land so etwas Tolles auf die Beine stellen konnten.

Mein Bruder Uli guckt kritisch. Er mag nicht fotografiert werden. Jeder in meiner Verwandtschaft war schon mal dran, aber Uli habe ich längere Zeit in Ruhe gelassen. Seinen Lebensweg finde ich spannend. Mit 19 ging er nach Frankfurt und arbeitet als Informatiker. Wochenends kam er heim. Er ist je nach Jahreszeit meist mit Snow- oder Surfboard im Bayerischen Wald unterwegs. Jetzt lebt er in Regensburg. Uli hat auf der Berufsoberschule das Abitur nachgeholt. Wir vier Geschwister kommen aus einer Arbeiterfamilie.

Dagmar wohnt in einem Nebendorf, etwa drei Kilometer entfernt. Ich habe sie über eine Freundin kennengelernt, weil ich an einem Kochbuch arbeite und Geschirr brauchte. Dagmar sammelt Antiquitäten und war sofort bereit, mir alles Mögliche auszuleihen. Eher nebenbei erwähnte sie, dass eine Schüssel 200 Euro wert sei. Dagmar war lange in München im Galeriebereich tätig, ihr Mann ist Architekt. Vor 30 Jahren ist sie wieder heimgekehrt. Die Stadt zu groß, zu betriebsam. Es ist natürlich auch leichter, auf dem Land auszustellen. Man sieht Dagmar die 70 Jahre nicht an.

„Agnes und Karin kommen oft zu uns in den Gasthof „Zum Kirchenwirt“, um unter Leuten zu sein und sich zu unterhalten. Beide sind Zugereiste, Karin aus Hamburg ist die Frau ohne Mütze, Agnes kommt aus Berlin. Dass sie am Stammtisch sitzen, ist eine kleine Revolution – als Frauen und dazu als Fremde! So etwas gab es früher nicht. Karin zog wegen ihres Mannes hierher, ihm waren die Alpen zu hoch und das Mittelgebirge gerade recht. Sie hat auch jetzt noch, wo ihr Mann tot ist, ein bisschen Heimweh nach der Stadt. Aber es reicht ihr, ab und zu in den Norden zu fahren.“

„Die Küche der Familie und die des Wirtshausbetriebs sind eins. Die Stühle am Tisch dreht man oft so, dass man zur Küche gewandt sitzt, wo meine Eltern kochen. Auch mit Besuch landet man irgendwann hier. In meiner Jugend haben wir am Tisch Gläser gerückt, bis einmal das Kreuz herunterfiel. Mit 14 Jahren habe ich die Canon AE1 bekommen, die Belichtung wurde nach Sonneneinstrahlung eingestellt. Ich saß in der Küche, hielt die Kamera auf meine Eltern und probierte alles aus.“

„Lina ist fünf Jahre alt. Ihre Mutter Anna Frisch ist eine Grundschulfreundin von mir. Sie hat den Josef Lemberger geheiratet, der war mit meiner Schwester in einer Klasse und wohnte gegenüber von uns. Im Dorf kennt man sich, aber ich habe mit Josef eben keine langen Gespräche geführt. Anna ist für mich dagegen sehr wichtig. Sie kommt vom Waldbauernhof ‚Waldeck‘, der urkundlich schon 1655 erwähnt wurde und wo noch heute Forstwirtschaft betrieben wird. Ein sehr traditionsreicher Beruf. Diese Leute zählen zu den Ersten, die den Wald bewohnbar machten. Der Wirtsbetrieb war geschlossen, Anna hat ihn wieder eröffnet und mit Josef eine Brotzeitstube draus gemacht. Die beiden backen noch im Holzofen, räuchern Fleisch in einer eigenen Kammer. Das Fernsehen war auch schon öfters bei ihnen, auch der frühere Bundespräsident Horst Köhler. Ihr Brotzeitstüberl läuft super. Bald bekommt Anna ihr zweites Kind.“

„Das Schwimmbad ist über den Kirchenbuckel hinter unserem Haus nur fünf Minuten entfernt. Als Kind war ich im Sommer fast jeden Tag dort. Wir haben Pfandflaschen gesammelt, um Geld für Milcheis zu verdienen, haben Tischtennis-Rundlauf gespielt und in der Sonne gelegen. Ich habe meine Schwimmabzeichen gemacht. Manche von uns stiegen über den Zaun. Das habe ich mich nie getraut. Später habe ich an die Kasse gearbeitet. Jetzt schwimme ich bei schönem Wetter wieder jeden Tag meine 60 Bahnen. Die Bademeister kenne ich, meine Kusine ist an der Kasse.“

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Fotos: Evi Lemberger

Text: Burkhardt Weitz

Publikation: Chrismon

Ausstellungseröffnung „Heimat moi zwoa“

mit Fotos von Evi Lemberger & Mads Holm

am 10. September 2015 um 19 Uhr im Haus zur Wildnis.

Heimat, sich heimisch fühlen und fremd sein. Das sind die zentralen Themen, mit denen sich Evi Lemberger und Mads Holm künstlerisch auseinandersetzen. Getrieben von der Suche danach, wo Heimat anfängt und Fremde aufhört, interpretieren die beiden Fotografen und Freunde in humoristischer, poetischer und fiktionaler Art die Umgebung des Bayerischen Waldes. Jeder auf seine Art. Und jeder auf der Suche nach der eigenen Sichtweise.

Evi Lemberger ist im Bayerischen Wald geboren. Mit 20 ist sie weggegangen, um immer wieder zurückzukommen. Nach 10 Jahren ist sie wieder nach Hause zurückgekehrte und sucht ihre neue alte Heimat und was sie zur Heimat macht. Die Bilder, ursprünglich fotografiert für das Magazin Chrismon im Jahre 2014, zeichnen diese Suche nach.

Mads Holm stammt ursprünglich aus Kopenhagen, Dänemark. Interessiert am Absurden und Obskuren, fotografiert er Orte oder Menschen, denen er etwas Geheimnisvolles verleiht. Wenn die Szene nicht mysteriös ist, neigt er dazu, sie mysteriös zu machen, durch die Art wie er sie fotografiert. Mads Holms Bilder entstanden bei einem Besuch im Bayerischen Wald.

 Die Vernissage wird umrahmt von „Hasemanns Töchtern“, den Gewinnern des Scharfrichterbeils 2013. Die Mischung aus Nationalpark, Heimat-Fotos der anderen Art und musikalischem Kabarett verspricht einen interessanten Abend fern gewohnter Vernissagen-Gepflogenheiten.

Die Ausstellung ist bis 08. November täglich von 9:30 bis 18:00 Uhr geöffnet.

mads@madsholm.com

evilemberger@gmail.com

www.nationalpark-bayerischer-wald.de

(Pressemitteilung)

http://www.nationalpark-bayerischer-wald.de/doc/service/downloads/aktuell/ausstellungen/fb_hzw_hoamat.pdf

 

Anlässlich der Ausstellung führten die zwei Künstler Evi Lemberger und Mads Holm ein Gespräch über Heimat , Fotografie und was sonst noch alles. Das Ganze wurde auf einem Poster gedruckt- einmal in Englisch und einmal in Bayerisch.

Due to the exhibition the two artists Evi Lemberger and Mads Holm were having an talk about home, photography and other related themes. The result was printed on a poster- one time in english and one time in Bavarian language.

Heimatenglisch.pdf

Heimat Bayerisch PDF

http://hoamatmoizwoa.tumblr.com

http://www.br.de/br-fernsehen/programmkalender/sendung-1054372.html

http://hoamatmoizwoa.tumblr.com

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